Cartoon: Marc Buchner

Zu Gast in Böhmen

Röstbrot mit Pastete, Rindersauerbraten mit Böhmischen Knödeln, Buchteln mit Vanillesoße... Die böhmische Küche ist eine Sehnsuchtsküche. Sie gilt als bodenständig, aber nicht provinziell, als fein, aber auch deftig. Eine Küche, die mit guten Portionen und cremigen Soßen Lust auf Schlemmen macht. Böhmische Köchinnen waren im 19. und 20. Jahrhundert hochgeachtete Persönlichkeiten und manche Mehlspeisen, die heute als „typisch österreichisch“ gelten, sind aus Böhmen ausgewanderte Klassiker. 

Ernüchterung stellt sich zunächst ein, wenn man heute auf die Speisekarten etlicher Gaststätten in Tschechien schaut. Pommes und Schnitzel, Currywurst und Ketchup, Paniertes und Frittiertes findet sich gefühlt an jeder zweiten Ecke. Wer die Küche in Böhmen und damit auch der Karlsbader Region beschreiben will, befindet sich in einer fast schon zwiespältigen Situation. Auf der einen Seite begegnet der Gast einem nahezu austauschbaren Einheitsangebot. Auf der anderen Seite erfahren markante Rezepte der Großmütter und Urgroßmütter eine wachsende Wertschätzung. Restaurants werben mit „Böhmischer“ oder gleich „Altböhmischer Küche“ und finden damit nicht nur bei Touristen Zuspruch, sondern auch bei Einheimischen, bei denen die Speisen Erinnerungen an Kindheitstage wachrufen.

Von der „guten alten Zeit“ der böhmischen Küche zu sprechen, ist freilich eine Vereinfachung, weil die Küchenstile auch früher immer davon abhingen, wo und wann gegessen wurde, ob in einem großbürgerlichen Prager Haushalt oder bei Bauersleuten, ob in einem mondänen Badeort oder in einem Gasthaus auf dem Land, ob an einem Feiertag oder im Alltag. Und vor allem war auch die böhmische Küche zu allen Zeiten eine Angelegenheit des lebhaften Austausches zwischen unterschiedlichen Kulturen – insbesondere Bayern und Österreichern –, aber auch zwischen gesellschaftlichen Schichten. 

Die traditionelle böhmische Küche des 19. und 20. Jahrhunderts konnte sich noch nicht auf die Möglichkeiten unserer globalisierten Warenwelt stützen, in der alles jederzeit verfügbar ist. Sie musste die Produkte verwenden, die saisonal und regional nahe beim Herd wuchsen. Zu den klassischen Frühlingsgerichten gehören Ostergerichte mit bunten Eiern, frischen Kräutern, Zicklein oder junges Lamm, ein Hefeteig mit Nüssen und Rosinen, gebacken in runder Brotlaibform, und Fisch, vor allem Karpfen. Die Sommerspeisen waren leicht, mit vielen Früchten, Gemüsesuppen und Gemüsegerichten, z.B. gebackenem Blumenkohl, Gemüseschnitzel, grüne Bohnen in Sahnesoße, alles begleitet von Kartoffeln. Der Herbst war reich an reifem Gemüse und Pilzen, Hühnerfleisch, Tauben und Kaninchen. Im Spätherbst feierte man fast überall im Land Kirchweih mit Kolatschen und Schlachtfesten. Fettes Fleisch, oft begleitet von Erbsen und Linsen, war dem Winter zugeordnet. Unter der Woche gab es jedoch kein Fleisch. Ein altes Volkslied drückt das aus: „Erbsen, Graupen, das haben wir täglich, Dalken vom weißen Mehl, Fleisch und mehr gibt es nur einmal in der Woche.“

In der saisonalen Küche entwickelten sich auch regionale Unterschiede, je nachdem, welche Naturprodukte überwogen. So stehen im zentralen Böhmen feines weißes Mehl als Zutat, Milchprodukte und Fleisch im Vordergrund. In den raueren Bergregionen mit den kargen Böden, zum Beispiel im Erzgebirge, kamen vor allem dunkles Vollkornmehl, Hafer, Gerstengraupen, Erbsen und Kartoffeln auf den Tisch, gerne und oft kombiniert mit Pilzen. Irgendeinen Knödel findet man in verschiedenen Varianten überall. So entstand in Südböhmen ein „Hefeknarrl“ – ein weicher Mehlknödel mit Hefe, der gut die dicke Pilzsoße aufnimmt, in der Stadt dagegen ein feiner Semmelknödel, der zum Schweine- oder Gänsebraten mit feinem Bratensaft serviert wird.

Intensiver kulinarischer Austausch

Die böhmischen Länder waren seit je reich an Bodenschätzen und Bodenprodukten. Tschechen waren meistens Bauern, die den Reichtum ihrer Böden geschickt zu nutzen wussten. Die zahlreichen Flüsse gaben reichlich Fische, insbesondere Forellen und Hechte. Klöster, zum Beispiel das Kloster Teplá, aber auch das Kloster in Waldsassen hatten Teiche angelegt und nutzten diese zur Zucht von Karpfen. Die tiefen Wälder waren reich an Wild und auf den Weiden graste zwischen Kühen und Schafen auch Niederwild – Hasen, Fasane, Schnepfen, Rebhühner. Auf den Wiesen fand man Kräuter, die man in die Speisen streute und gegen Unpässlichkeiten nutzte. Das Wissen, welche Kräuter hilfreich und genießbar sind und welche nicht, hatte man sich in Klöstern schon früh angeeignet. Daran konnte die häusliche Apotheke anknüpfen. Der Reichtum an Pilzen hat gerade im Erzgebirge eine regelrechte Manie an Pilzgerichten verursacht. Heute noch sind viele Tschechen begeisterte Pilzsammler.

Wie Brauchtum auch zwischen gesellschaftlichen Schichten weitergegeben wurde, zeigt die Entwicklung der Jagd. Sie war einst ein Privileg des Adels, blieb aber auch dem Bürgertum nicht verwehrt. Andererseits hatten gerade auch bäuerliche Ernährungsweisen, etwa die Neigung zu günstigen Sättigungsgerichten, starken Einfluss auf die gutbürgerliche Küche. Viele Klassiker sind so entstanden, dass Köchinnen und Köche versuchten, das Beste aus beiden Welten zu vereinen. 

Auch zwischen den benachbarten Ländern Böhmen und Franken kam es zu einem intensiven kulinarischen Austausch. Der Sauerbraten ist hier wie dort ein Aushängeschild der regionalen Küche. In Böhmen und Franken sind säurebetonte Aromen generell stark verbreitet, man denke nur an das Sauerkraut. Kraut gab es auf dem Feld praktisch überall. Krautköpfe und Wirsing haben den Winter im kühlen Keller schadlos überstanden. Das Kraut wurde auch konserviert: eingesalzen, im Holzfass mit den Füssen gestampft und natürlich gegärt. Deshalb gehört auch dieses Kraut zu allen fetten Braten von Schwein oder Gans, die man einst ausschließlich in der Winterzeit verzehrte.

Hinzu kommt eine ausgeprägte Gewürzkomponente. Sie setzte sich in der herrschaftlichen Küche bereits im späten Mittelalter durch, als Gewürze auf der Route von Nürnberg nach Prag reisten. Zwar waren Gewürze für das gemeine Volk zu teuer, doch konnte man auch auf einheimische Kräuter ausweichen. 

Tschechen essen gerne deftig und schrecken vor Fett nicht zurück. So hat sich zum Bier eine typische Spezialität entwickelt: die Topinky – einfaches dunkles Brot in Scheiben geschnitten, im Schweineschmalz geröstet und mit Knoblauch eingerieben. Köstlich, auch wenn man danach niemanden küssen sollte.

Meisterhafte Mehlspeisen

Die Röstaromen bringen eine weitere beliebte Komponente ins Spiel. In der böhmischen Küche kommen sie, teils kräftig bei Fleischgerichten oder gerösteten Broten (mit und ohne Aufstrich), teils dezent bei Desserts, noch häufiger vor als in Franken. Zarte Röstaromen entstehen zum Beispiel auch bei der Herstellung einer Mehlschwitze, „Einbrenne“ genannt, und lassen sich aus vielen Mehlspeisen herausschmecken. Hier hat es die böhmische Küche zu einer Meisterschaft gebracht, die kaum von einer anderen Region übertroffen wurde. Wenn Menschen heute von einer „typischen österreichischen Mehlspeise“ schwärmen, von Kolatschen (koláce), Dalken (vdolky), Liwanzen (lívance) oder den berühmten Buchteln (buchty), sollte nicht vergessen werden, dass diese Gerichte ihren Ursprung in Böhmen haben. Durch die Zugehörigkeit des Landes zur österreichischen Monarchie wanderten etliche junge Frauen als Köchinnen nach Wien ab. Sie nahmen ihre Kochkunst mit und so ist die österreichische Küche um zahlreiche Mehlspeisen, Sahnesoßen und feine Desserts reicher geworden. Es gab Zeiten, da hatte jeder großbürgerliche Haushalt eine böhmische Köchin. Mit der Zeit vermischten sich die Küchen so, dass heute auch in der böhmischen Küche Palatschinken und ein ungarisches Szegedinergulasch heimisch sind. Allerdings begleitet vom böhmischen Semmelknödel, nicht von Weißbrot oder Nudeln. 

Mit dem Erstarken des Bürgertums und dem touristischen Aufschwung, den die Badeorte und die großen Städte nahmen, richtete sich die Küche stärker international aus. Die französische Küche passte mit ihren Cremes, Pasteten und der Vorliebe für reichhaltige Soßen sehr gut zur böhmischen. Es war die Zeit des ausgehenden 19., beginnenden 20. Jahrhunderts, in der die böhmische Küche zum Inbegriff der gediegenen Tafel wurde.

Die Rolle der böhmischen Köchin 

Die spannende kulinarische Entwicklung hat sich in Kochbüchern für den Privathaushalt niedergeschlagen. Das erste böhmische Kochbuch schuf Magdalena Dobromila Rettigová Anfang des 19. Jahrhunderts. Geboren wurde sie als Tochter des Burggrafen in Všeradice südlich von Prag. Tschechisch lernte sie erst mit 18 Jahren von ihrem Ehemann, einem tschechischen Rechtsanwalt und Aufklärer. Sie lebten in Litomyšl, Ostböhmen, wo sie als Schriftstellerin, Poetin und Hauswirtschaftslehrerin tätig war. Ihr „Häusliches Kochbuch“ ist zum Standardwerk der böhmischen Kochkunst geworden.

Marie Janků-Sandtnerová legte mit ihrem Kochbuch in den 1930er Jahren ein modernes Werk vor, in dem der europäische Einfluss deutlich wird. Die Gerichte waren von der französischen Küche merklich beeinflusst, obwohl sich die Autorin grundsätzlich an die heimischen Rezepte hielt. 

In den 1950er Jahren kam Vilém Vrabec mit einem weiteren Buch zur böhmischen Küche zur Geltung. Es half Frauen dabei, ihrer Familie einen reicher gedeckten Tisch anbieten zu können. Daneben haben sich auch die einfacheren Haushalte nach den Tischsitten gerichtet, die z.B. Sandtnerová in ihren Büchern vermittelt hatte. So kann man sagen, dass der Standard der Esskultur allgemein gehoben wurde. 

Der langfristige Trend zur leichten, gesunden Ernährung setzt sich in der Gegenwart fort. Die westböhmischen Kurorte Karlsbad, Marienbad und Franzensbad haben eine eigene kulinarische Tradition, die der gesundheitsfördernden Ernährung der Kurgäste entspricht. So hat z.B. Karlsbad sein eigenes leichtes Kalbsgericht „Karlsbader Gulasch“ mit Karlsbader Semmelknödel; Marienbad eine besondere Art der Forellenzubereitung. Dasselbe gilt für den „Hecht Amerika“ aus dem gleichnamigen See bei Franzensbad. Anspruchsvolle Kurhäuser haben einen eigens ausgebildeten Diätkoch, der nach der Krankheitsindikation Diätspeisen zubereitet. Eine austauschbare Allerweltsküche konnte sich gerade in den touristischen Orten nicht durchsetzen. Wir haben also allen Grund, guten Mutes zu sein. Die traditionelle böhmische Küche besteht fort. Sie wird zeitgemäß und liebenswert interpretiert. Und da die Liebe bekanntlich durch den Magen geht, macht es Sinn, die Gäste in der Region mit besonderen Schmankerln zu verwöhnen.
Dobré chutnání – Guten Appetit!

Kristina Jurosz