„Wir brauchen noch Geduld“
Der Kulturvermittler Hans-Joachim Goller und die sanfte Macht der Kunst
Erinnern Sie sich noch gut an Ihre ersten Begegnungen mit den tschechischen Nachbarn?
― Ja, das war 1968, als Dubček den Prager Frühling gestalten konnte. Damals wurde die Grenze durchlässiger. Wir hatten von unserem Jazzclub in Selb Kontakte zu einer Band nach Eger aufgebaut. Die Musiker haben in der kurzen Zeit oft nicht mal ein Visum gebraucht, sondern sind mit einem Taxi von Cheb zum Zollhaus nahe Schirnding gefahren. Dort haben wir die Tschechen mit unseren Autos abgeholt und mit ihnen in Selber Kneipen Jazzmusik gemacht. Gegen 2 oder 3 Uhr nachts haben wir sie wieder rübergefahren. Die Zöllner waren so happy, dass sie Deutsche auf friedliche Weise getroffen haben, dass wir auch mit ihnen drüben noch ein, zwei Pils getrunken haben, bis wir gegen 5 Uhr zum Schlafen wieder nach Hause fuhren. Das ging aber nur wenige Wochen, so lange, wie 1968 der Frühling dauerte. Als Anfang August die russischen Panzer in Prag einrollten, war Schluss.
War dann totale Funkstille?
― Nein, wir haben uns schon noch geschrieben und uns ab und an auch mit Visa besucht. Die Beziehungen waren nie ganz weg. Als Kulturdezernent habe ich ab 1977 auch Musikgruppen aus der Tschechoslowakei, darunter ganze Orchester, nach Selb eingeladen. Musik ist ein sehr dankbares Medium, um Grenzen zu überwinden. Im Bereich der Bildenden Kunst war mir das trotz mehrerer Anläufe erst ab 1990 möglich.
Wie das? Nur wegen der Grenzöffnung?
― Mir kam der Zufall zu Hilfe. Ich war 1990, als die bundesrepublikanische Botschaft in Prag von 4000 Menschen belagert wurde, im Rahmen einer bayerisch-tschechischen Wirtschaftswoche mit einer Delegation des Landrates vor Ort. Bei diesem Besuch waren wir auch im Parlament und haben mit dem Präsidenten gesprochen. Ich saß neben der Dolmetscherin und als das Gespräch vorbei war, sagte ich zu ihr: „Wir versuchen schon die ganze Zeit Bildende Kunst nach Selb zu holen. Gibt es da keine Möglichkeit bei Euch, jetzt, wo alles lockerer werden soll?“ Da sagte sie: „Ja, gehen Sie mit mir heim. Mein Mann ist Maler. Der macht das.“ Die Frau hieß Marxová, Familienname Marx. Und Karl Marx hieß der Maler. Mit dem Mann und seiner Tochter habe ich ein paar Monate später eine Ausstellung im Rosenthal-Theater Selb gemacht.
Das war der Startschuss zu vielen weiteren Begegnungen. Sie haben unter anderem eine Kulturbörse organisiert, ein Forum, bei dem sich Künstler aller Sparten von hüben und drüben präsentieren konnten. 1996 eröffneten Sie Ihre eigene nicht-kommerzielle Galerie. Und seit 1999 organisiert der Kunstverein Hochfranken Selb umfangreiche Kunstprojekte, die immer wieder, seit 2004 alle zwei Jahre, Menschen beider Seiten zusammenführen. Was ist aus Ihrer Sicht der Nutzen dieser Begegnungen, vom Kennenlernen und Miteinandersprechen abgesehen?
― Damit spielen Sie sicher weniger auf monetäre Vorzüge an. Der Nutzen ist vor allem ein geistiger. Wir erwischen immer wieder Menschen dabei, die von Kunst unwillkürlich angesprochen werden, zum Beispiel wenn sie an den Granitskulpturen in Selb vorbeigehen, die der Kunstverein in zwei Workshops und zwei Projekten geschaffen hat. Manche gehen achtlos vorbei. Manche gehen vorbei und werfen doch einen Blick drauf. Andere wiederum bleiben davor stehen und schauen es sich intensiver an. Immer noch machen die meisten den Fehler und fragen: Was will denn der Künstler mir damit sagen? Völlig falsch! Ich empfehle, einfach nur hinzugehen und sich darauf einzulassen, dass es dem Betrachter etwas sagt. Mehr will die Kunst gar nicht.
Was sind die Hauptbarrieren, die wir beim Austausch mit den Nachbarn noch überwinden müssten?
― Die Barrieren sind zum beachtlichen Teil gefühlt und nicht rational begründbar. Meine Mutter zum Beispiel, die deutlich länger gelebt hat als mein Vater, wollte nach der Grenzöffnung nicht rüber. Dabei ist sie früher als Schneiderin oft nach Asch gefahren, um Stoffe zu holen. Ich habe mir gesagt: Jetzt zeigst du es ihr aber ganz besonders und bin mit ihr in das nobelste Hotel gegangen, das Pupp in Karlovy Vary. Das Essen wurde mit silbernen Hauben auf den Tellern serviert und hat super geschmeckt. Meine Mutter ist aus dem Staunen nicht mehr herausgekommen.
Es dauert wahrscheinlich immer noch lange, bis Vorurteile gegenüber „den anderen“ abgebaut sind.
― Ich bin überzeugt, zwei bis drei Generationen insgesamt, gut eine ist jetzt rum. Wir brauchen noch Geduld. Deswegen bin ich auch der Überzeugung, dass wir weiter Kunstprojekte machen müssen, die Menschen zusammenführen. Damit man merkt: Die Menschen sind gar nicht so verschieden.
Haben Sie sich überlegt, was mit Ihrer Kunstsammlung irgendwann passiert, die Sie als Galerist aufgebaut haben?
― Schon in den 1990er Jahren ist bei mir dazu eine Idee entstanden. Am Oststadtrand von Selb gibt es einen Hügel, an dessen Fuß die Grenze vorbeigeht. Meines Erachtens wäre es ein toller Standort, um ein deutsch-tschechisches Kulturinstitut zu installieren. Ich habe ein spartenübergreifendes Konzept ausgearbeitet und an Gott und die Welt geschickt. Fast immer hieß es: „Das ist eine gute Idee. Aber wir wissen nicht, wie wir es bezahlen sollen.“ Inzwischen bin ich wegen der EU-Osterweiterung der Meinung, dass wir es nicht als binationale Einrichtung, sondern als europäische denken müssen: als Kulturforum Mitte Europa. Es gibt ein Haus der Europäischen Geschichte in Brüssel. Wenn es möglich war so etwas für die Geschichte hinzubekommen, dann muss es möglich sein, auch eines für die Zukunft hinzukriegen. Momentan beiße ich mir daran, etwas die Zähne aus. Aber ich habe noch ein paar Zähne und beiße weiter.
Interview: Oliver van Essenberg