Freiraum für Macher
Tourismus und Industrie –
In der Grenzregion wächst zusammen, was nicht selbstverständlich zusammen gehört
Oberfranken und der westliche Teil Böhmens, insbesondere die Karlsbader Region, sind eine seit Jahrhunderten eng verbundene Kulturlandschaft. Nach 1945 entwickelten sich die Länder Jahrzehnte lang auseinander. Doch seit dem Fall des Eisernen Vorhangs im Jahr 1990 wachsen die Grenzräume wieder mehr und mehr zusammen. Die Herausforderungen, vor denen die Regionen hüben und drüben stehen, sind trotz unterschiedlicher gesellschaftlicher Rahmenbedingungen in Teilen vergleichbar. Hier wie dort handelt es sich um eine ländliche Gegend, in der Industrie und Tourismus in einer ungewöhnlichen Dichte aufeinandertreffen. Nicht nur die Lebensräume, sondern auch die zwei erwähnten Branchen, die auf den ersten Blick in einem Spannungsverhältnis stehen, können sich hier sinnvoll ergänzen.
Industrie und Tourismus waren im Fichtelgebirge und in der Karlsbader Region schon immer ein Paar. Ein Musterbeispiel hierfür liefert die Porzellan- und Glasindustrie. Diese hatte ihren enormen Aufschwung in der Biedermeierzeit, d.h. in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, zum wesentlichen Teil zahlungskräftigen Kurgästen aus ganz Europa zu verdanken. Die Industrie wuchs: War 1950 noch rund die Hälfte aller Beschäftigten in Oberfranken in der Porzellan- und Textilindustrie tätig, ist die Region heute wesentlich breiter aufgestellt. Auch in der Karlsbader Region ist die Monostruktur einer größeren Branchenvielfalt gewichen. Der Strukturwandel verlief nicht ohne gravierende Einschnitte: In den ehemaligen Leitbranchen Porzellan und Textil mussten viele kleine und einige mittelständische Unternehmen schließen. Menschen wanderten ab. Zurück blieben leerstehende Fabriken und verlassene Häuser. Wahr ist aber auch: So manche Nischenanbieter und exportstarke Großunternehmen konnten sich erfolgreich behaupten. Neue Anbieter stießen hinzu. Vielerorts hat sich das Blatt bereits gewendet, der Aufschwung ist spürbar.
Mit der Umnutzung von Industriebrachen hat das Fichtelgebirge bereits gute Erfahrungen gemacht. Das Porzellanikon, Staatliches Museum für Porzellan, und die Outlet-Center in Selb verdeutlichen das. Das bislang ehrgeizigste Projekt betrifft die Hallen der ehemaligen Winterling Porzellan AG, die 1999 in Insolvenz ging. Vier Gemeinden, die von den Hallen dominiert werden, haben sich in einem beispielhaften Schulterschluss zusammengetan und das gemeinsame Kommunalunternehmen (gKU) Winterling Immobilien gegründet, um neues Leben in die Hallen zu bringen. Mit Erfolg: 2018 haben bereits 60 in der Region und darüber hinaus bekannte Unternehmen Räume in den Arealen gefunden. Produktion, Logistik, Handel und ein Getreidelager, aber auch ungewöhnliche Nutzer wie ein Radquartier, Künstler und Kreative füllen die Hallen. Während Metropolen über Platzmangel klagen, bietet die ländliche Region Flächenreichtum. Hier können Erfolgsprojekte gedeihen wie der auf der grünen Wiese entstandene Industriepark Cheb, Gesamtfläche: 106 ha, der größte Industriepark an der Grenze zu Bayern. Hier haben sich bereits rund 20 Unternehmen angesiedelt, darunter die Firmen Playmobil CZ, TUP Bohemia, Schneeberger, JSP International und Tchibo.
Hidden Champions
Wer immer noch von einer „Krisenregion“ spricht, wird angesichts der zahlreichen „Hidden Champions“ schnell eines Besseren belehrt. Diese finden sich in vielen Branchen: Textil, Keramik und Glas, Automotive, Kunststoffe und Chemie, Maschinen- und Gerätebau, Elektrotechnik und Energie. Im Fichtelgebirge und in der Karlsbader Region sind aktuell nicht zu wenig Arbeitsplätze vorhanden – im Gegenteil, es werden Arbeitskräfte gesucht, und zwar quer durch alle Branchen. Von Tourismus über Dienstleistung bis Industrie suchen Firmen Mitarbeiter mit unterschiedlichem Qualifikationsniveau, von der ungelernten Aushilfe bis zum Ingenieur. Die beiden Industrie- und Handelskammern mit Sitz in Bayreuth und Cheb, aber auch die Wirtschaftsförderung der Städte und Kommunen unterstützen die Arbeitgeber bei ihren Bemühungen mit vielerlei Aktivitäten. Nicht nur, um Zuzügler anzulocken, sondern auch, um junge Menschen nach ihrer Ausbildung zum Hierbleiben bzw. zur Rückkehr in die Region zu bewegen. Im Fichtelgebirge wurde hierfür sogar eine eigene Entwicklungsagentur geschaffen. Auf tschechischer Seite plant die Stadt Cheb den Aufbau einer Personalagentur, die auch bei der Vermittlung von Kindergartenplätzen und Wohnungen helfen soll.
Bei der Werbung für die Regionen hüben und drüben kann man viele gute Argumente aufführen: günstiger Wohn- und Lebensraum, ausreichend Kindergartenplätze, eine niedrige Arbeitslosenquote (beidseits der Grenze um 4%), ein Aufwärtstrend auf dem Arbeitsmarkt, der seit Jahren anhält. In der Konkurrenz mit Ballungsräumen wird dabei die allgemeine Lebensqualität immer wichtiger. Diese ist wie eine gut funktionierende touristische Infrastruktur auch ein sogenannter weicher, letztlich aber ungemein wichtiger Standortfaktor. Denn während Ballungsräume mit Stau, Feinstaub, Enge und einer Überhitzung auf dem Wohn- und Arbeitsmarkt zu kämpfen haben, bieten das Fichtelgebirge und die Karlsbader Region das genaue Gegenteil davon: Entspannung, naturnahes Leben mit hohem Freizeitwert und Raum zur Entfaltung. Oder um es mit dem Slogan einer Kampagne aus dem Fichtelgebirge auszudrücken: Freiraum für Macher.
Oliver van Essenberg